Neue genomische Techniken und alte Gentechnik: Alles gleich gefährlich? Was die Wissenschaft sagt
Sind Pflanzen, die mit neuen genomischen Verfahren gezüchtet wurden, genau so einzustufen wie solche, bei denen die „alte“ Gentechnik zum Einsatz kam? Müssen alle ohne Abstriche gleich streng reguliert werden? Bergen sie die gleichen „unkalkulierbaren“ Risiken? Ja, meinen viele Organisationen aus der Anti-Gentechnik-Szene oder der Bio-Branche. Wie auch Teile der Ampelkoalition in Berlin lehnen sie jede Reform der überholten Gentechnik-Gesetze ab. Damit setzen sie sich über das hinweg, was die Wissenschaft sagt – eindringlich und nahezu einmütig.
Zwar hat die EU-Kommission nach langem Zögern einen Vorschlag zur Reform der 30 Jahre alten Gentechnik-Gesetze vorgelegt, doch die politischen Beratungen stecken erst einmal fest. Noch immer gelten daher in der EU für genom-editierte Pflanzen die gleichen gesetzlichen Vorschriften wie für gentechnisch veränderte (GVO). Bei Freilandversuchen, Zulassung, den besonderen Regeln beim Anbau und Kennzeichnung der Produkte sind die Anforderungen so hoch, dass sie einem Verbot für genom-editierte Pflanzen gleichkommen.
Nicht nur das: Wenn die geltenden Gesetze zwischen alter und neuer Gentechnik keinen Unterschied machen, wird das auch die öffentliche Wahrnehmung bestimmen: Die verbreitete Ablehnung von Genfood, die diffuse Furcht vor „unkontrollierbaren“ Risiken der Gentechnik schließt pauschal auch die neuen Verfahren ein. Sollten in Zukunft Produkte aus genom-editierten Pflanzen weiterhin als als „gentechnisch verändert“ gekennzeichnet werden müssen, hätten sie auf dem Markt keine Chance – auch wenn sie zu einer nachhaltigen Landwirtschaft beitragen, etwa durch Einsparung von Pflanzenschutzmitteln und mehr Biodiversität.
Wissenschaftlich bestehen jedoch grundlegende Unterschiede zwischen herkömmlicher Gentechnik und den neuen genomischen Techniken (NGT), so inzwischen die offizielle Bezeichnung für neue Präzisionszüchtungsverfahren wie die Gen-Schere CRISPR/Cas und andere Methoden des Genome Editing.
- Bei der klassischen Gentechnik wird „fremdes“ genetisches Material von außen in eine Pflanzenzelle eingeführt. An welcher Stelle es in das Genom integriert wird, ist vom Zufall abhängig.
- Ganz anders die neuen genomischen Züchtungsverfahren, allen voran die Gen-Schere CRISPR/Cas: Mit ihnen ist es möglich geworden, das Erbgut – genauer: den DNA-Doppelstrang – an einer bestimmten, vorgegebenen Stelle zu schneiden. Anschließend wird die Schnittstelle wieder repariert, oft mit kleinen Fehlern. So können das betroffene Gen abgeschaltet oder einzelne DNA-Bausteine umgeschrieben werden – in der Regel ohne neue Gene auf Dauer in das Erbgut einzufügen. Im Prinzip handelt es sich um eine punktuelle Mutation, deren Ort und Wirkung bekannt ist und die auch zufällig unter natürlichen Bedingungen hätte entstehen können.
Wie die Gen-Schere funktioniert: Mehr dazu im Lexikon: Crispr/Cas
Grafik oben: Bing Image Creator
Anders als bei klassischer Gentechnik sind in einfachen editierten Pflanzen keine DNA-Sequenzen vorhanden, die für das Verfahren charakteristisch. Wenn die genaue DNA-Sequenz einer bestimmten Mutation bekannt ist, lässt diese sich zwar mit Hilfe moderner Nachweis-Analytik (PCR) identifizieren. Doch ob es sich dabei um eine „natürliche“, zufällig entstandene handelt, ob sie auf konventionelle Züchtung zurückgeht oder gezielt „im Labor“ editiert wurde, ist nicht zu unterscheiden.
Genome Editing verringert die Probleme, die aus den Zufälligkeiten der Züchtung erwachsen – das bedeutet Zeit- und Kostenersparnis, aber auch mehr Sicherheit durch mehr Präzision. Egal, ob Kreuzungs-, Mutationszüchtung oder andere Verfahren: Jede Züchtung verändert Gene – meist wahllos und in großer Zahl. Aber nur bei den neuen genomischen Verfahren sind diese Veränderungen im Einzelnen bekannt.
Selten war die Wissenschaft so einig und deutlich: Die GVO-Gesetzgebung der EU ist veraltet und entspricht nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Expertenkommissionen, Akademien, Fachverbände, wissenschaftliche Gesellschaften – es gibt wohl keine europäische Institution von Rang, die nicht eine zeitgemäße Reform der 30 Jahre alten Gentechnik-Gesetze angemahnt hat (siehe unten).
Im Kern sind sich die Vorschläge aus der Wissenschaft in diesen zentralen Punkten einig:
- Ist in einer genom-editierten Pflanze keine Fremd-DNA von außen eingeführt worden und hätte sie so auch unter natürlichen Bedingungen durch zufällige Mutation oder herkömmliche Kreuzungszüchtung entstehen können, soll sie nicht mehr den für GVO geltenden Regeln unterliegen, sondern eher wie eine herkömmliche gezüchtete Pflanze bewertet werden. Im Vorschlag der EU-Kommission für eine Neuregulierung werden solche Pflanzen als NGT1 bezeichnet
- Wer die vereinfachten oder gar ganz abgeschafften Regeln für eine genom-editierte Pflanzen in Anspruch nehmen will, sollte gegenüber einer Behörde darlegen, ob die Voraussetzungen dafür zutreffen.
- Werden jedoch neue Gene oder größere DNA-Abschnitte mit Hilfe der neuen Techniken an einer bestimmten Stelle im Genom eingefügt, sollen solche Pflanzen eher als GVO angesehen und entsprechend reguliert werden.
- Darüber hinaus drängen fast alle Wissenschaftsorganisationen darauf, dass die Sicherheitsbewertung neuer Pflanzen künftig nicht mehr vom jeweiligen Züchtungsverfahren abhängen sollte, sondern von den Eigenschaften des erzeugten Produkts.
Inzwischen hat die EU-Kommission einen Prozess eingeleitet mit dem Ziel, die europäischen Gentechnik-Gesetze zu reformieren und „an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt anpassen“. Damit sollen „Innovationen in der Landwirtschaft ermöglicht werden“ – ohne das „hohe Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt“ aufzugeben. Seit Juli 2023 liegt der Vorschlag der Kommission vor. Derzeit stecken die Beratungen fest, vor allem durch die politische Blockade einzelner Mitgliedstaaten im Rat. Wann die Reform beschlossen sein wird und wie sie am Ende aussehen wird, ist derzeit nicht absehbar.
Was die Wissenschaft sagt: Stellungnahmen, offene Briefe, Dokumente (eine Auswahl)
Daher ist es wissenschaftlich gerechtfertigt, NGT-Pflanzen der Kategorie 1 in Bezug auf die Ähnlichkeit genetischer Modifikationen und die Ähnlichkeit potenzieller Risiken als konventionell gezüchteten Pflanzen gleichwertig zu betrachten.
Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA); Juli 2024
Mit Pflanzen, die gegenüber Krankheiten, Umweltbedingungen und Auswirkungen des Klimawandels widerstandsfähiger sind, können die Neuen Züchtungsverfahren zu nachhaltigen Lebensmittelsystemen beitragen.
Europäische Kommission (Wissenschaftliche Dienste)
Produkte der neuen Züchtungstechniken – soweit sie ohne das dauerhafte Einbringen fremden Genmaterials auskommen und sich auf das Hervorrufen von Mutationen beschränken – sind nicht unterscheidbar von Produkten der herkömmlichen Züchtung. Die Genomeditierung von Pflanzen bedeute somit kein höheres Risiko als seit Jahrzehnten etablierte und nicht regulierte Techniken.
Gemeinsame Pressemitteilung von DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) und Leopoldina (Nationale Akademie der Wissenschaften), 20. Januar 2023
Die derzeitige GVO-Definition sollte dahingehend überarbeitet werden, „dass genomeditierte Organismen vom Anwendungsbereich des Gentechnikrechts ausgenommen werden, wenn keine artfremde genetische Information eingefügt ist und/oder eine Kombination von genetischem Material vorliegt, die sich ebenso auf natürliche Weise oder durch konventionelle Züchtungsverfahren ergeben könnte.
Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und Deutsche Forschungsgemeinschaft
Die konventionelle Züchtung klimaresilienter Nutzpflanzen ist zu zeitaufwändig. Es dauert Jahre, sogar Jahrzehnte. Diese Zeit haben wir in Zeiten des Klimanotstands nicht. … Deshalb müssen schnelle, gezielte und günstige Züchtungsmethoden in den Werkzeugkasten der Pflanzenzüchter aufgenommen werden. Der Gesetzentwurf zur Regulierung von NGT-Anlagen ist daher ein wichtiger Schritt, … die ökologische Nachhaltigkeit in den Bereichen Lebensmittel, Landwirtschaft und Energie zu verbessern.
Offener Brief an die Abgeordneten des EU-Parlaments, unterzeichnet von 37 Nobelpreisträgern und über 1500 Wissenschaftlern, darunter Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna, Nobelpreisträgerinnen für Chemie 2020 und Entdeckerinnen des CRISPR/Cas-Verfahrens
Die Gesellschaft zahlt einen Preis dafür, wenn neue Genom-Editiertechniken nicht genutzt werden oder die Einführung zu langsam erfolgt. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn es darum geht, unsere gemeinsamen Probleme für die Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit zu lösen.
European Academies - Science Advisory Council (EASAC), 28 nationale wissenschaftliche Akademien aus allen EU-Mitgliedstaaten sowie Großbritannien, Norwegen und Schweiz
Die europäischen Rechtsvorschriften sollten sich an den neuen Merkmalen der Pflanze orientieren, nicht an der Technik, mit der sie erzeugt wird. … Gezielte Genome Editierungen, die keine fremde DNA hinzufügen, stellen kein anderes Gesundheits- oder Umweltrisiko dar als Pflanzen, die durch klassische Züchtungstechniken gewonnen werden, und sind so sicher oder gefährlich wie letztere.
All European Academies (ALLEA)
Der VBIO hält eine Anpassung des Gentechnikgesetzes nach dem EuGH-Urteil zu Genome Editing für notwendig, um Nachteile für Forschung und Entwicklung in Europa zu verhindern und in Zeiten des Klimawandels die Züchtung krankheitsresistenter und ertragreichere Pflanzen zu ermöglichen.
Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO)
Es gibt jedoch keine wissenschaftlichen Gründe, identische Veränderungen im Genom abhängig von der Methode der Erzeugung zu machen und völlig unterschiedlich zu regulieren. Pflanzen, die einfache, gezielt mit Genscheren erzeugte Veränderungen enthalten und in die keine fremden Gene eingefügt wurden, sind von Pflanzen konventioneller Züchtung nicht zu unterscheiden und genauso sicher. Die europäische GVO-Gesetzgebung von 2001 ist nicht mehr zeitgemäß und berücksichtigt nicht den aktuellen Stand der Wissenschaft.
Max-Planck-Gesellschaft
Offener Brief von 117 Forschungseinrichtungen aus nahezu allen EU-Mitgliedstaaten
Fortschritte in der Pflanzenzüchtung sind von entscheidender Bedeutung für die Verbesserung der Ernährungssicherheit unter sich ändernden klimatischen Bedingungen. (…) Eine Verbesserung der Genetik ist erforderlich, um Nutzpflanzen und Nutztiere zu züchten, die sowohl die Treibhausgasemissionen senken als auch eine höhere Trockenheits- und Hitzetoleranz besitzen.
IPCC (Weltklimarat), Climate Change and Land
Diskussion / Kommentare
Themen
Im Web
- Leopoldina und DFG fordern wissenschaftsbasierte Positionierung in der EU-Debatte um neue genomische Techniken in der Pflanzenzucht; 19.10.2023
- Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften. Thema im Fokus: Grüne Gentechnik - Pflanzenzucht mit der Genschere.
- Leopoldina, DFG, Union der deutschen Akademien der Wissenschaft; Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU (2019)
- Zentrale Kommission für biologische Sicherheit, Stellungnahme der ZKBS zum Vorschlag der Europäischen Kommission zur Neuregulierung von Pflanzen, die mit „Neuen Genomischen Techniken (NGT)“ gezüchtet wurden (24.10.2023)
- EU-Kommission, New techniques in biotechnology
- EFSA, Wissenschaftliches Gutachten zur ANSES-Analyse von Anhang I des EG-Vorschlags KOM(2023) 411; 11. Juli 2024