Die Pusztai-Kontroverse: Irrtum der Wissenschaftler oder Beweis für Sicherheitslücke
Pusztai hatte die wissenschaftlichen Spielregeln verletzt: Er machte seine Ergebnisse im Fernsehen publik, ohne sich zuvor der Diskussion im Kreis seiner Fachkollegen zu stellen. Als er darauf von der Leitung seines Instituts entlassen wurde, sahen große Teile der Öffentlichkeit darin eine Strafaktion gegen einen unliebsamen, kritischen Wissenschaftler. Diese besondere Dramaturgie des Falls überlagerte die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Dabei ging es um drei Kernfragen.
Signifikant?
Sind Pusztais Befunde an den Ratten überhaupt signifikant? Oder liegen die Auffälligkeiten bei einzelnen Tieren im Rahmen normaler Schwankungen?
Laborratten: Nachdem sie mit Lektin-Kartoffeln gefüttert wurden, fanden sich bei einigen Tieren Veränderungen ihrer Organe. Über die Schlussfolgerungen aus diesen Befunden wird seit Jahren diskutiert.
- Die von der Prüfungskommission des RRI verfasste Audit Report sieht nach Durchsicht aller Versuchsdaten keinen signifikanten Hinweis auf eine Schädigung der Versuchstiere. Gerade diejenigen Daten, die eine hohe Aussagekraft besitzen, seien nicht korrekt bestimmt worden. Beispielsweise sei es üblich, die so genannten „relativen Trockengewichte der Organe“ zu vergleichen. Damit sollen Fehlinterpretationen aufgrund der individuell natürlicherweise unterschiedlichen Körpergewichte der Versuchstiere vermieden werden. Pusztai stützt seine Aussagen dagegen auf Unterschiede in den „absoluten Feuchtgewichten“ der Organe.
- Auch andere Spezialisten - darunter solche, die Pusztai selbst als kompetent und unabhängig benannt hatte - bezweifelten die Signifikanz der Ergebnisse. So wurde etwa die zu geringe Zahl von sechs Versuchstieren bemängelt. Einer der Gutachter des Lancet-Artikels kritisierte, dass bei den beobachteten Veränderungen des Darmwachstums keine einheitlichen Tendenzen zu erkennen seien. Einmal werden Effekte bei rohen Kartoffeln beobachtet, ein anderes mal bei gekochten. Einmal handelt es sich um wachstumsfördernde, einmal um wachstumshemmende Effekte. Aus seiner Sicht erscheint es fragwürdig, diese widersprüchlichen Effekte auf eine Ursache, nämlich die gentechnische Veränderung zurückzuführen.
Diese Meinungen teilten jedoch nicht alle Wissenschaftler. Ob Pusztais Daten signifikant sind oder nicht, ist bis heute strittig.
Fehler im Versuch?
Liegen die Gründe für die Auffälligkeiten bei den Ratten in einem falsch durchgeführten Versuch?
- In seinem Alternative Report weist Pusztai darauf hin, dass die transgene Linie sich nicht nur im Lektin-Gehalt, sondern auch hinsichtlich anderer Inhaltsstoffe von der Ausgangslinie unterscheidet, d.h. eine nicht vorliegt. In einer Anhörung durch eine britische Expertenkommission (Commitee on Toxicity of Chemicals in Food) im April 1999 erklärte sein Ko-Autor Ewen, dass zu Beginn der Experimente angenommen wurde, beide Linien wären äquivalent. Nur unter dieser Voraussetzung war die Durchführung von Fütterungsstudien überhaupt sinnvoll. Warum die Inhaltsstoffe erst bestimmt wurden, nachdem die Versuche begonnen hatten, ist unbekannt. Ewen bestätigt in der Anhörung, dass man unter diesen Umständen den Vergleich nicht hätte vornehmen sollen.
- Bei Fütterungsstudien muss das jeweilige Futter so zusammengesetzt werden, dass keine Ernährungsmängel auftreten, welche die Ergebnisse verfälschen könnten. Die Versuchstiere müssen alle notwendigen Nährstoffe erhalten. Eine Reihe von Experten kritisieren, Pusztais Resultate seien Folgen einer nicht ausgewogenen Nahrung. Das Futter der Ratten habe viel zu wenig Protein enthalten. Gerade bei Versuchsratten, die mit den transgenen Lektin-Kartoffeln gefüttert wurden, sei dieses besonders gravierend, da diese Kartoffeln zwanzig Prozent weniger Protein als üblich enthielten. Eine Proteinunterernährung könnte somit eine plausibel zu erklärende Ursache für die beobachteten Veränderungen sein.
Erklärungen: Hohe Solaningehalte in den Kartoffeln?
Was haben die gentechnisch veränderten Lektin-Kartoffeln, das die Versuchstiere schädigt?
Vorausgesetzt, dass in den Versuchen kein Ernährungsmangel vorlag und die Veränderungen bei den Ratten tatsächlich signifikant war, dann muss die Ursache im Prozess der Gen-Übertragung zu suchen sein. Folgende Erklärungen kommen in Betracht:
- Während der in vitro-Kultur (ein notwendiger Schritt bei der Herstellung transgener Pflanzen) entstanden Linien mit einem erhöhten Alkaloidgehalt. Alkaloide sind giftige Verbindungen, die in Kartoffeln als Solanin vorkommen. Solanin, das durch Kochen kaum zerstört wird, führt in höheren Konzentration zu Gesundheitsbeeinträchtigungen.
Aus der konventionellen Kartoffelzüchtung ist bekannt, dass bei der Vermehrung von Kartoffeln große Schwankungen bezüglich dieser Substanz entstehen können (somaklonale Variation). In der Praxis wird während der Züchtung der Solaningehalt der Kartoffeln ständig überprüft.
Bei der Bestimmung der Inhaltsstoffe der transgenen Lektin-Kartoffel hat Pusztai Solanin aus unerfindlichen Gründen nicht berücksichtigt. Warum Pusztai diese (wahrscheinlichste) Erklärung zwar im _Alternative Report_erwähnt, jedoch später nie mehr in Betracht zieht, bleibt unklar. * Proteine wie das aus Schneeglöckchen stammende GNA-Lektin können in einer transgenen Pflanze, d.h. in einer genetisch und physiologisch fremden Umgebung, ein anderes Verhalten zeigen als in der Ursprungspflanze. Dies kann zum einen die Größe des Proteins betreffen, aber auch das Glykosylierungsmuster. Damit bezeichnet man Zuckermoleküle, die sich auf der Oberfläche vieler Proteine befinden und unabhängig von der DNA-Information verschiede Strukturformen annehmen können. Das GNA-Lektin aus Schneeglöckchen könnte mit der Übertragung auf die Kartoffel seine Struktur verändert und dadurch eine andere biologische Wirksamkeit bekommen haben. So ließe sich erklären, warum das GNA-Lektin erst in der transgenen Kartoffel gesundheitsschädlich geworden ist. * Infolge der Genübertragung könnte sich der Stoffwechsel der Kartoffeln so verändert haben, dass giftige Substanzen entstanden. Mögliche Auslöser dafür könnten Teile der übertragenen Gensequenzen (z.B. Steuersequenzen wie der Promotor aus dem Blumenkohlmosaikvirus) sein, aber auch Veränderungen im Kartoffel-Genom durch neu eingeführte Gene.
Mit Ausnahme seiner Schlussfolgerungen im _Alternative Report_erwägt Pusztai in späteren Berichten und Diskussionen aus unerfindlichen Gründen nur die dritte, unwahrscheinlichste und noch nie beobachtete Erklärung, die prinzipiell auf alle transgenen Pflanzen zutrifft. Auf diese Hypothese stützte sich seine Kritik an unzureichenden Sicherheitsüberprüfungen bei der Genehmigung gentechnisch veränderter Pflanzen.
Dabei übersah Pusztai, dass entsprechende Fütterungsstudien mit gentechnisch veränderten Pflanzen bereits zum damaligen Zeitpunkt durchgeführt worden waren - ohne vergleichbare Ergebnisse gefunden zu haben.