Koexistenz-Leitlinien: Sogar Anbauverbote sind erlaubt
Im Juli 2010 hat die EU-Kommission neue Leitlinien zur Koexistenz beim Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen erlassen. Sie markieren eine Wende in der europäischen Gentechnik-Politik. Im Kern ist es den Mitgliedsstaaten nun überlassen, ihre Vorstellung von „Koexistenz“ durchzusetzen. Während bisher „gentechnik-freie“ Zonen nur auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen möglich waren, können die Länder nun den Anbau bestimmter gentechnisch veränderter Pflanzen verbieten.
John Dalli, damaliger EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz: „Die Mitgliedsstaaten brauchen mehr Flexibilität, um Koexistenz regeln zu können.“
Die EU-Koexistenz-Leitlinien richten sich an die Mitgliedsstaaten, haben aber nur empfehlenden Charakter. Es ist ihnen künftig weitgehend freigestellt, wie sie den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen regeln. Sie können auf nationale Koexistenz-Vorschriften verzichten, sie können aber auch „gentechnik-freie“ Zonen vorschreiben.
Wirtschaftlicher Schaden. Zweck von Koexistenz-Maßnahmen ist die Vermeidung wirtschaftlicher Schäden durch ungewollte GVO-Einträge. Bisher war ein solcher Schaden über den Schwellenwert definiert: Einträge (zugelassener) GVO bis zu 0,9 Prozent galten als tolerierbar. Nun kann grundsätzlich jeder GVO-Eintrag als wirtschaftlicher Schaden angesehen werden.
Die EU-Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen durch geeignete Vorschriften so zu regeln, dass verschiedene landwirtschaftliche Systeme mit und ohne Gentechnik auf Dauer nebeneinander bestehen können. Die am 13. Juli 2010 von der EU-Kommission beschlossenen Leitlinien zur Koexistenz unterscheiden sich von den bisherigen Empfehlungen aus dem Jahr 2003 deutlich.
Bisher sollten die von den Mitgliedsstaaten vorgeschriebenen Maßnahmen „angemessen“ sein, um „zufällige, technisch unvermeidbare“ GVO-Einträge in konventionelle Bestände unter dem EU-weit geltenden Kennzeichnungs‑ Schwellenwert von 0,9 Prozent zu halten. Künftig können nationale Anbauvorschriften auch so ausgelegt sein, weitaus geringere GVO-Einträge zu vermeiden.
Die Erfahrungen der letzten Jahre hätten gezeigt, so die Kommission, dass wirtschaftliche Schäden durch GVO-Einträge in herkömmlichen Anbausystemen nicht nur bei Überschreitung des Kennzeichnungs- Schwellenwertes von 0,9 Prozent eingetreten seien. In einigen Märkten entstünden für die Produzenten hohe Kosten bei der Trennung von GVO- und nicht-GVO-Produkten. Etwa, wenn Abnehmer ihre Lieferanten vertraglich zu geringeren GVO-Anteilen verpflichten.
Damit kehrt die EU-Kommission vom Grundgedanken der bisherigen Leitlinien ab, dass Koexistenzmaßnahmen ausschließlich der Einhaltung des GVO-Kennzeichnungs-Schwellenwertes dienen sollen.
Die Leitlinien sehen in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit zur Ausweisung von „GVO-freien“-Flächen vor. Damit wird den Mitgliedsstaaten de facto eingeräumt, den Anbau von gv-Pflanzen regional und auch großflächig auf ihrem Hoheitsgebiet zu verbieten. Bisher waren solche „gentechnik-freien“ Zonen nur auf Basis freiwilliger Vereinbarungen möglich. Rechtlich bindende Anbauverbote hatte der Europäische Gerichtshof wiederholt für unzulässig erklärt.
Die neuen Leitlinien im Überblick:
- Nationale Koexistenzmaßnahmen sollen in Zusammenarbeit mit allen betroffenen Verbänden und Gruppierungen erarbeitet werden.
- Die Maßnahmen sollen „angemessen“ sein, um unnötige Behinderungen von bestimmten Produktionssystemen zu vermeiden.
- Die Begrenzung der Vermischung von GVO- und nicht-GVO-Produkten soll nach den Markterfordernissen ausgerichtet werden. Je nach Land und Region sowie den vorhandenen Märkten können Maßnahmen zur Einhaltung des Kennzeichnungsschwellenwertes von 0,9 Prozent oder darunter getroffen werden. Wenn keine ökonomischen Schäden zu erwarten sind, sollen auch keine Restriktionen beim Anbau eingeführt werden.
- Die getroffenen Maßnahmen sollen regionale und lokale Besonderheiten berücksichtigen, zum Beispiel die Größe und geographische Verteilung der Felder, Fruchtfolgewechsel, natürliche Faktoren mit Einfluss auf die Pollenverbreitung wie Topographie und Klima.
- Die Mitgliedsstaaten können den Anbau von gv-Pflanzen großflächig verbieten, wenn andere Maßnahmen zum Schutz der konventionellen bzw. ökologischen Landwirtschaft ungeeignet sind.
Die EU-Kommission hat 2008 das „Europäisches Büro für Koexistenz“ eingerichtet, das die Wirksamkeit technischer Koexistenzmaßnahmen weiter verbessern soll. In Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten und beteiligten Interessensgruppen sollen Empfehlungen für kulturartenspezifische Trennungsmaßnahmen erarbeitet werden.